Fritz plagt eine schreckliche Ahnung: Seine Mutter liebt ihn nicht. Seit dieser skandalösen Entdeckung, findet er sich in seiner Welt nicht mehr zurecht. Alles was ihm vertraut war, erscheint ihm plötzlich fremd und unheimlich, er zieht sich immer mehr aus seiner Umgebung zurück. Einzig die Hoffnung, sich getäuscht zu haben, macht ihm Mut. Um zu überprüfen, ob seine Mutter ihn wirklich nicht liebt, fasst Fritz einen radikalen Plan: Er inszeniert seinen Selbstmord.
Am Freitag, 19. Oktober 2012 findet um 19 Uhr eine Einführung mit dem Aargauer Autoren Michel Mettler statt.
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„Der Teich“ ist Robert Walsers einziges auf schweizerdeutsch verfasstes Stück. Bis nach seinem Tode unveröffentlicht, ist das Kurzdrama bis heute einer seiner weniger bekannten Texte. Zu Unrecht: Walsers beklemmende Figurenzeichnung und sein Feingefühl für die schweizerdeutsche Sprache machen den Text zu einem wahren Fundstück für das Theater, in dem die zentralen Motive des Walser’schen Werks bereits angelegt sind: Die „versehrte Mutterbindung“, bei der die Mutter-Kind-Beziehung von extremen Schwankungen zwischen totaler Vereinnahmung und grober Vernachlässigung geprägt ist, das Gefühl des Unerkannt- und Verkannt-Seins und der daraus resultierende Rückzug ins Aussenseitertum.
Zu Autor und Text: Nach seinem ersten Aufenthalt in Berlin kehrt Robert Walser 1902 in die Schweiz zurück: Seine Hoffnungen, als Schauspieler zu reüssieren oder von der Arbeit als Schriftsteller zu leben, haben sich zerschlagen. Auf 15 Seiten in einem unlinierten Schulheft schreibt er das Dramolett „Der Teich“ nieder und schenkt es seiner Schwester Fanny. Das kleine Meisterwerk blieb bis weit über den Tod Walsers hinaus unveröffentlicht und wurde erstmals in der Gesamtausgabe abgedruckt.
In diesem frühen Text sind bereits die zentralen Motive des Walser’schen Werks angelegt: Die „versehrte Mutterbindung“, bei der die Mutter-Kind-Beziehung von extremen Schwankungen zwischen totaler Vereinnahmung und grober Vernachlässigung geprägt ist, das Gefühl des Unerkannt- und Verkannt-Seins und der daraus resultierende Rückzug ins Aussenseitertum. Aus den verspielten Dialogen und den traurig-trotzigen Zeilen von Fritz meint man den 24-jährigen Autor heraus zu hören, der sein eigenes Jugendalter noch nicht lange hinter sich hat.
Zum Inhalt: Fritz will nicht mehr auf der Welt sein. Alles ist ihm zuwider: Das Geklapper des Bestecks beim stummen Abendessen, die petzende Schwester, der memmenhafte Vater, der verhätschelte Bruder, die dumpf-fröhlichen Kameraden. Den Grund dafür entdeckt er, als er bei seinem einzigen Freund Ernst dessen Mutter kennenlernt: Fritz: „ I ha no nie gschpürt, dass i e Mueter ha. Höchstens uf em Buggel.“ Ernsts Mutter hingegen ist fürsorglich und freundlich. Fritz zieht daraus die Schlussfolgerung, dass seine eigene Mutter ihn nicht liebt. Nach dieser Entdeckung erleidet Fritz einen Weltverlust: er verliert das Vertrauen in seine Urteilsfähigkeit, er fühlt sich auch allen anderen Mitmenschen gegenüber verunsichert und auch ihr Verhalten wird unlesbar für ihn. Aus der Unfähigkeit, in der Beziehung zu seiner Mutter die Liebe von der Lieblosigkeit zu unterscheiden, wird die Unfähigkeit, überhaupt unterscheiden zu können zwischen Freunden und Feinden, guten und bösen Absichten, vertraut und fremd. Bruder, Schwester und Kameraden werden von seiner Entfremdung in Mitleidenschaft gezogen. Gleichzeitig stehen sie Fritz' Generalverdacht aber ohnmächtig gegenüber: Die Mutter hat die Welterschütterung verursacht und nur die Mutter kann sie wieder herrichten. Um die Mutter zu einem Liebesgeständnis zu zwingen, und seine traute Welt zurückzugewinnen, täuscht Fritz seinen Selbstmord vor.
Identität und Performance: Das Stück stellt immer wieder die Frage nach der Konstitution von Identität. Fritz Identitätsbewusstsein wird erschüttert, da er glaubt sein Umfeld bis anhin falsch wahrgenommen zu haben. Judith Butler zufolge begründet sich der Identitätsbegriff als performativer Akt. Identität entsteht demnach als Prozess und innerhalb und durch die Lebenswelt des Individuums - dies bedeutet die soziale und kulturelle Prägung durch das Umfeld ist von Bedeutung für die Einordnung des Individuums in seine soziale Rolle und das Verständnis seines Selbst. So versucht der Protagonist Fritz sein Umfeld zu manipulieren, um klare Zeichen zu erhalten. Erst so kann er seine eigene Stellung im sozialen Netz bestimmen. Die Inszenierung greift dieses Verständnis von Identität als Performance auf und verwendet die theatralen Mittel dahingehend: Sich überlagernde Zeichen treten neben die Wiederholung und Variation von Zeichen.
Zum Produktionsteam: Realisiert wird „Der Teich oder Die Unheimlichkeit des Gewöhnlichen“ vom jungen Produktionsteam papst&co., das im Februar 2011 von Anna Papst (Regie), Myriam Zdini (Dramaturgie), Gabriela Neubauer (Bühne) und Mirjam Egli (Kostüme) gegründet wurde. Die Regisseurin Anna Papst konnte mit ihrer ersten Regiearbeit „Die Schläferinnen“, das im Theater Neumarkt gezeigt wurde, Zuschauer und Kritiker gleichermassen begeistern. Ihr eigenes Stück „Die Gottesanbeterin“ erlebt im März 2013 seine Uraufführung am Schauspielhaus Zürich.
In „Der Teich“ arbeitet sie mit Theaterschaffenden aus den Bereichen Tanz, Schauspiel und Musik zusammen. Die Inszenierung spielt im Graubereich der Wahrnehmung, wo die Grenzen zwischen Manipulation und Passivität verschwimmen. Fritz, der zuerst als gewitzter Redner seine Situation vorträgt, gerät bald in den Sog seiner eigenen Handlungen. Als die Fassade aus Anstand und Regeln in der Familie Marti bröckeln, löst gerade die ersehnte Nähe zur Mutter, die grösste Verunsicherung in ihm aus. Fritz nimmt für sich den einzigen möglichen Weg: er wählt die Flucht in die Fiktion.
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